Bildnis einer Frau

Bildbetrachtung von Klaudia Weinreich, Acryl auf Leinwand, Maße: 0,50m x 0,60m

Zu sehen ist auf einem flächig, in vielen dunklen Blautönen gemalten Bild das vorwiegend ockerfarbene Bruststück einer Einzelperson. Die Person ist den Betrachtenden zugewandt, ohne diese jedoch, trotz geöffneter Augen, zu sehen. Die Blickrichtung der Person geht leicht nach unten, der Blick scheint sich nach innen zu richten. Vor der Brust kreuzt eine etwas überdimensionierte linke Hand von unten in Richtung rechter Schulter. Die Bewegung ist fließend, der Handrücken ist sichtbar, die Schulter ist rund. Die Hand ist begrenzt von einem Ärmel, der verschiedene Blautöne enthält. Der Arm scheint anatomisch zu kurz, die Hand zu groß, die Schultern zu schmal zu sein. Jedoch löst sich die Person, von den Betrachtenden aus gesehen linksseitig, im Hintergrund auf, so daß keine klare Abgrenzung der Person, keine klare Figur zu erkennen ist. Vielmehr bleibt die Gestalt unklar. Dieser Effekt wird unterstützt durch großflächige Übermalungen im recht konkret gehaltenen Gesicht und auf dem wenig konkret ausgestalteten Körper.

Die dunkle Farbgebung, der nach innen gerichtete Blick, der Handrücken - die Person erweckt einen abweisenden und zugleich einen melancholischen, traurigen Eindruck.
Der Handrücken scheint eine Schranke zwischen den Betrachtenden und der Person zu sein.
Die Handbewegung ist nicht auf ein Gegenüber bezogen, sondern die Bewegung ist rückbezüglich, schließt den Kreis zu sich selbst. Diese Bewegung unterstreicht den Eindruck von Einsamkeit in diesem Bild.
Die schmalen Schultern scheinen die Betrachtenden aufzufordern, diese Gestalt zu schützen. Dagegen jedoch symbolisiert die Farbe Ocker eine selbständige Erdigkeit.
Es handelt sich um ein widersprüchliches Bild: Wird einerseits Mitgefühl geweckt, Melancholie und Einsamkeit ausgelöst, so handelt es sich andererseits durchaus um die Darstellung einer Person, die auf dem Boden der Realität steht, das Leben gestalten und „packen" kann - für diese Annahme spricht auch die Größe der Hand.
Dennoch scheint das Dunkelblau in dem Bild die Figur zu bestimmen, förmlich (und formal) aufzulösen. Übertragen könnte dies so interpretiert werden, als wäre zur Darstellung des Bildnisses ein Moment gewählt worden, in dem das Dunkle/Schwere die Wahrnehmung des Daseins dieses Menschen bestimmt und dadurch die Persönlichkeit mit ihren anderen Facetten kaum kenntlich werden lässt.
Die Farbe Ocker und der leicht trotzig erscheinende Mund, aber auch die Möglichkeit, sich zu schützen, abzugrenzen - dies alles lässt darauf schließen, daß die dargestellte Gestalt Energie, Kraft und einen eigenen Willen hat. Dagegen vermitteln die runden Formen der Schultern, der Ärmel, der Frisur Weichheit.
Auch hier tritt wieder das Spannungsfeld der Widersprüchlichkeit zutage, fordert zu einer Auseinandersetzung mit dieser Person auf und heraus.

Was erkennen wir von einer Person? Wieviel dessen, das wir an einer/m anderen Person wahrnehmen hat mehr mit uns selbst, als mit dem Gegenüber zu tun? Was ist in diesem Zusammenhang dann „Wahrheit"?