Bildnis eines Suchenden

Bildbetrachtung von Klaudia Weinreich, Acryl auf Leinwand, Maße: 1,20m x 1,20m

Zu sehen ist ein orangefarbener Hintergrund. Dieser weist konzentrische, in einem Abstand von 8 cm nach außen hin heller werdende Kreise auf.
Das Bild wird von einer Vertikalen in zwei Hälften geteilt. Dieses in beiger Farbe gemalte vertikale Objekt könnte sowohl einen Bambusstab als auch das Schema einer Wirbelsäule darstellen.
In der rechten Bildhälfte konstituiert sich aus schnellen, groben Strichen die Hälfte eines schmalen Kopfes mit dunklen Augenhöhlen. Das Portrait hat keine festen Umrisse, das Gesicht tritt hervor, um sich dann wieder in farbigen Flächen zu verlieren. Vor allem im Kontext der linken Bildseite löst sich alles in Farbflächen auf, da sich dort gar nichts Konkretes finden lässt. Konkret bleibt einzig das beigefarbene Gebilde in der Bildmitte.
Ist die Farbigkeit des Bildes in der rechten Hälfte sehr kontrastreich mit dunklem Blau und Weiß, so lassen sich in der linken Bildhälfte vor allem Erdfarben finden. Oben links im Bild scheinen die Farben erneut einen Kreis nachzuempfinden.
Der Kreis galt in der Renaissance als Garant für Vollkommenheit. Der Bildaufbau in der Malerei wurde so gewählt, dass möglichst viele Bildelemente entweder eine Kreisbeziehung zu einander bildeten, oder eine quadratische Beziehung (auch Vollkommenheit), oder sich in Form eines gleichschenkligen Dreiecks (Göttlichkeit) zueinander verhielten.
In diesem Bild sollen die Kreise verstanden werden als Hinweis auf Ganzheitlichkeit. Das Streben nach Einheit von Körper und Geist. Orange, die Farbe steht für Energie, Wärme, Lebenslust, Kraft. Vor diesem Hintergrund ist das halbe frontale Antlitz eines Menschen zu sehen. Der Hintergrund leuchtet stellenweise durch dieses Antlitz hindurch. Somit ist eine Verknüpfung von Hintergrund und Figur geschaffen, eine Verknüpfung von Streben nach etwas Vollkommenem und dem Menschen selbst. Der Mensch wird definiert auf der Basis dieses Strebens. Die Malweise ist flächig. Die Person wird nicht perspektivisch gemalt, sondern bleibt in der Fläche des Hintergrundes, was die Verknüpfung verstärkt.
Bei der Darstellung dieses Portraits handelt es sich offensichtlich nicht um die Bemühung, den Mensch in seinem körperlichen Abbild darzustellen, sondern um die Wesenheit der Person. In der Kunstgeschichte gibt es eine ausufernde Diskussion um die Frage nach der richtigen Art der Darstellung von Abbildern. Gegeneinander gestellt werden die Imago, d.h. die Vorstellung von einem Menschen und die „persona" (Maske), d.h.  das optische Abbild mit den Attributen, die einen Menschen ausmachen.
Bei dieser Darstellung handelt es sich um die psychologisierende Sicht einer Person, um eine Interpretation von Begegnungen. Im Vordergrund, einzig real, scheint das ockerfarbene Gebilde zu sein: Die Wirbelsäule oder der Bambusstock. Ein körperbewusster Mensch, ein Sportler, der mit Bambusstöcken trainiert. Diese Dinge scheinen real. Alles andere lässt mehr Fragen offen, als dass es Antworten gibt:
Wer ist dieser Mensch?
Was ist das Spezifische an einem Menschen überhaupt? Ist es die Geschlechtszugehörigkeit? Ist es das Aussehen? Ist es die Sprache, Kultur, Erziehung?
Oder sind es nicht sichtbare Merkmale? Was ist das Ureigene an diesem Menschen? Ist es sein Bestreben, das Leben als eine Ganzheit begreifen zu wollen, Achtung vor dem Leben, Achtung vor der eigenen Integrität? Eine besondere Vorsicht im Umgang mit anderen Menschen, Vorsicht in der Erkenntnis der eigenen Möglichkeiten - konstruktiv und destruktiv. Die Spannung zwischen Vibration und Bändigung. Der Körper als Resonanzobjekt geistiger Erkenntnisse -Sport, Ernährung, Zusammenspiel der Kräfte, Einheit - Ganzes. Vorhandene Energie, diszipliniert, domestiziert, in Form gebracht. Eine Faszination an Dunklem, Hinwendung zu Eigenem, nicht Vorgegebenem, schlussendlich der Wunsch nach Erkenntnis.

Wie sehen wir ein Gegenüber? Was erkennen wir in oder an einem anderen Menschen?