Kain und Abel

Bildbetrachtung von Klaudia Weinreich, Acryl auf Leinwand, Maße: 0,50m x 0,60m

Das in groben Strichen gemalte Bild gliedert sich in zwei Bildteile, die durch eine nach links verschobene weinrote Senkrechte voneinander getrennt werden. Weinrot, hier verwendet wie Lila, die Farbe der Passion, des Leidens, des Schmerzes.
Beide Bildteile haben eine gelbfarbene Basis, dominierende Orange-Flächen und jeweils eine mehr zu erahnende denn zu sehende weiße Gestalt.
Die linke Gestalt hat einen leicht gelb-grün getönten Kopf - und Oberkörperbereich.
Die rechte weiße Gestalt hebt sich vor einem kräftigen rotbraunen Schatten ab, der die Form der weißen Gestalt wiederholt.

Es sind keine manifesten Gestalten mit klaren Abgrenzungen zur Umgebung oder zum Hintergrund.
Rechts von der Figur ausgehend verdichtet sich die Farbe Blau, welche eine vor allem in Weißtönen gehaltene rundliche Form freigibt.
Mittig in diesem Rund ist ein erdiges Rotbraun, oberhalb davon ein leuchtendes Gelb zu sehen. Das Orange geht in der rechten Bildhälfte in ein Weinrot über, bevor es sich in einem weiten Weiß verliert.
Nach links löst sich das Blau in einem Weinrot auf und ragt etwas über die Senkrechte in die linke Bildhälfte.

Gerahmt ist das Bild von weißen Senkrechten.
Die Farbe Weiß wird hier nicht gemäß der kunstgeschichtlichen Tradition verwendet als Symbol für Unschuld, sondern als Symbol für „Alles oder Nichts".
Die Lichtfarbe Weiß beinhaltet alle Lichtfarben und wird aus dieser Mischung zu einem weißen Licht. Dies entspricht dem „Alles".
Die Materialfarbe Weiß beinhaltet keine Farbpigmente und wird dadurch zu Weiß, dem Nichts.

Weiß als Symbol für „Alles oder Nichts" - und die Rahmung des Bildes mit weißen Senkrechten lässt darauf schließen, dass es sich um eine existentielle Geschichte handelt. Es geht um das Sein oder Nicht-Sein, um Kain und Abel, um Mensch und Mensch - und um Gott.

Zunächst scheint es in diesem Werk um die biblische Geschichte der zwei Brüder zu gehen: Links im Bild Abel, ein Viehhirte, gekennzeichnet durch das Rotbraun, Symbol für Erdigkeit, Landverbundenheit. Er bewegt sich und konstituiert sich vor dem braunen Grund.
Auch das Orange durchdringt das Weiß. Orange, Symbolfarbe für Energie, Leben, Wärme.
Der Oberkörper zeigt sich grünlich: Grün, die Farbe der Hoffnung. Allerdings handelt es sich um ein ganz zartes Grün, fast noch als gelb wahrzunehmen. Dieses Grün steht für eine ganz zarte Hoffnung, nicht zielgerichtet, ähnlicher einer Ahnung denn einer Hoffnung, basierend auf der Erkenntnisfähigkeit eines Menschen. Abel, ein junger Mann mit Lebensplänen, kraftvoll und zuversichtlich im Leben stehend, sich selbstverständlich - Seiend. Abel - weiß - eine Existenz als Spannungsfeld zwischen Allem oder Nichts, ein Verhältnis aus Körper (Braun), Verstand (Gelb/Grün) und Gefühl (Orange) mit der Möglichkeit und Zwangsläufigkeit, sich zu dem eigenen Sein zu verhalten. Abel - .
Und auf der rechten Bildseite befindet sich Kain.
Die weißen Gestalten haben jeweils eine gelbe Basis. Gelb steht für Gott, Göttlichkeit, Transzendenz, aber in meinen Bildern auch immer als Symbol für gottgegebene Erkenntnisfähigkeit. Beide Gestalten haben die Möglichkeit der Erkenntnis. Doch trotz der gleichen Basis - und hier ist die Geschichte interessant, denn die Basis ist nicht nur das Erkenntnispotential, sondern auch die gleiche Herkunft - unterscheiden die von der Wesensart her gleich gestrickten Menschen (Körper,Verstand, Gefühl) sich ganz wesentlich: Kain, der Mensch, der sich nicht selbstverständlich ist, der Mensch, der immer nach rechts und links sehen muß, um sich verorten zu können.

Kain, der Fragende, der nicht Verstehende, der zu kurz Kommende, der Hungrige - der Leidende. Kain, der alles hatte, was er zum Leben brauchte: Körper, Verstand, Gefühl und ein Feld mit Früchten - es war für seinen Leib gesorgt. Aber nicht gesorgt war für seine Seele.

Obwohl die Geschichte von der direkten Ansprache Gottes an Kain berichtet - und zwar noch bevor es zum Totschlag kommt - erreichte Gott nicht Kains innere Existenz.

Warum hat Gott sein Opfer nicht angenommen?

Dieser Konflikt in Kain findet sich dargestellt in der weißen und der braunen Figur. Dadurch, dass die weiße Gestalt den Hintergrund hindurchscheinen lässt, die braune Gestalt aber nicht, entsteht ein spannendes Wechselspiel in der Dominanz der wahrgenommenen Figur: Das Braun wird zunächst - weil auf der linken Bildseite ebenfalls eine weiße Figur zu sehen ist - als Schatten der weißen Figur wahrgenommen. Bei längerer Betrachtung jedoch wandelt sich der Schatten in eine eigenständige Figur, die der weißen Figur zugewandt ist und auf sie einzureden scheint. Es handelt sich um die innere Zwiesprache des Menschen. Die sich verselbständigende und nicht mehr erreichbare Erkenntnisfähigkeit, sich äußernd in unendlichen Fragen, die nicht beantwortet werden können - vielleicht auch nicht wirklich beantwortet werden müssen.

Denn, ist es wirklich wichtig, dass nur Abels Opfer anerkannt wurde, wenn Kain doch sonst alles hatte, was er zum Leben brauchte? Und weiß Kain, dass es Abel niemals vorher auch schon passiert war, dass Gott sein Opfer nicht gnädig ansah? Vielleicht hat Abel das aber nicht als persönlichen Angriff gesehen und bewertet?

In dem Kreis oben rechts im Bild ist ein Weizenfeld zu sehen, ein Attribut zu Kain.
Dieses Weizenfeld ist in einen Kreis eingeschrieben, der zum Teil von Blau verdeckt ist.
Kreise stehen in der kunstgeschichtlichen Tradition für Vollkommenheit, hier für Gott.
Auch hier steht die Verwendung der Farbe Weiß wieder für alles oder nichts:
Gott, der alles geben kann, oder nichts, alles nehmen kann, oder nichts. Gott, der das Alles ist, oder das Nichts - Gott, undenkbar, unvorstellbar für den durch Raum und Zeit und das eigene So-Sein begrenzten menschlichen Geist.
Gott- unendlich weit entfernt (blau, Symbol für Distanz, Kälte), unbegreiflich und zugleich unendlich nah und wahrnehmbar.
Gott, der mit Kain spricht, aber nicht gehört wird.
Gott, der begegnet, aber nicht wahrgenommen wird.
Das Bild ist in sehr kräftigen Farben gemalt, in sehr leidenschaftlichen Farben: Orange, Weinrot, Gelb - so leidenschaftlich, wie die Geschichte selbst ist: Sie handelt von einem leidenschaftlichen Menschen, der einen anderen vernichtet, von einem leidenschaftlichen Gott, der den Menschen vor sich selbst warnt, nicht aber bevormundet. Von einem leidenschaftlichen Gott, der den sich selbst unterlegenen Menschen so straft, dass dieser kaum meint, überleben zu können. Vielleicht ist dieser Fluch Gottes eine Liebestat an Kain - eine Möglichkeit, Buße zu tun, eine Möglichkeit, etwas zu sühnen, ohne sich selbst dabei vernichten zu müssen, eine Möglichkeit zur Entlastung von einem erdrückenden Schuldbewusstsein, das jedes weitere Leben mit seiner Potentialität zunichte macht.
Kain und Abel - die sich unendlich wiederholende Geschichte jenseits der biblischen. ICH und DU, Mensch und Mensch - Recht und Unrecht, Nähe und Distanz, Gunst und Missgunst, die Geschichte zweier Brüder, zweier Schwestern, zweier Völker, zweier Kontinente - die Geschichte des Seins, solange es Sein geben wird.